Offen subjektiv

Von Brigitte Voykowitsch · · 2002/05

Gibt es objektive Nachrichten und können JournalistInnen überhaupt unbeeinflusst berichten? VideoaktivistInnen bezweifeln das und präsentieren alternative Medien und Nachrichten, abseits vom Mainstream.

Kauf es. Lies es. Handle danach. Deine Welt wird nie mehr die gleiche sein“, heißt es auf dem Cover der neuen Ausgabe des „The Video Activist Handbook“. In den auf der Rückseite abgedruckten Kurzrezensionen betont Naomi Klein, Autorin des internationalen Bestsellers „No Logo“: „Die globale Protestbewegung wächst, weil AktivistInnen lernen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen … und sie mit anderen in der ganzen Welt zu teilen.“
Wer noch keine Erfahrung im Umgang mit Videokameras hat, ja vielleicht bis jetzt zögerte, sich als alternative(r) MedienmacherIn zu betätigen, oder von den bestehenden alternativen Netzwerken zu wenig wusste, dem will das Handbuch auf anschauliche Weise vermitteln, dass jede und jeder sich engagieren kann (sollte? muss?), weil es angesichts des „Versagens“ der Mainstream-Medien gar nicht genug „RebellInnen“ geben kann.
Es war mehr als nur Unzufriedenheit, es war ein tiefes Unbehagen über die herkömmliche Berichterstattung im Fernsehen, aber auch in den Printmedien, die den Verfasser des Handbuchs, Thomas Harding, und seinen Bekannten Paul O’Connor Anfang der 90er Jahre zur Gründung von „undercurrents“ veranlasste, einem der ersten alternativen Nachrichtenkanäle in Großbritannien. Die beiden stellten dann bald fest, dass sich weltweit ähnliche Initiativen gebildet hatten oder im Entstehen waren. Denn überall wuchs die Zahl jener, die Inhalte, Präsentation und die so genannte Objektivität der professionellen Medien in Frage stellten. Überall griffen, auch dank der billiger und benutzerfreundlicher werdenden Technologie, Menschen selbst zur Kamera, um die anderen Geschichten zu erzählen, jene, über die offiziell nirgends berichtet wurde. Längst bestehen weit verzweigte Netzwerke für den Vertrieb und Austausch dieser Videos, zumal in Ländern wie Großbritannien oder Australien AktivistInnen auch Kinos anmieten, um ihre Nachrichten zu zeigen.

Wer bei dem Wort AktivistIn nun gleich an gewalttätige Personen denkt, den bremst O’Connor ein: „Natürlich gibt es auch die Gruppen, die Gewalt befürworteten. Ich selbst, und mit mir wohl ein Großteil aller AktivistInnen, aber lehnen Gewalt ab. Uns geht es darum, die Menschen an der Basis zu Wort kommen zu lassen.“
Ein kurzer Bildbericht, ein knapper O-Ton mag VertreterInnen der Basis ja im Mainstream gelegentlich zugestanden werden. Undercurrents und andere Alternativen aber wollen ausführlich deren Anliegen, Aktivitäten und Meinungen schildern. Ob es sich um Briten handelt, die gegen ein neues Gesetz protestieren, um die Landlosenbewegung in Brasilien, um Menschen, die sich gegen die Wohnpolitik in Australien engagieren, wo immer BürgerInnen aktiv sind, sollen sie ernst genommen und ihre Weltsicht eingehender präsentiert werden.
Selbstverständlich stehen die VideomacherInnen auf Seiten der AktivistInnen, das bestreitet O’Connor gar nicht. Aber ist Engagement wirklich gleichzusetzen mit „Agitprop“ (Kurzwort für Agitation und Propaganda, Anm. d. Red.), wie es ein britischer Medienkritiker aus dem rechten Spektrum formulierte und dem Videoaktivismus damit jeglichen Anspruch, von seriösen Medien beachtet zu werden, absprach? Ganz im Gegenteil, betont Katharine Ainger von dem in Oxford ansässigen angesehenen entwicklungspolitischen Magazin „New Internationalist“, mit dem das SÜDWIND-Magazin kooperiert. „Der Videoaktivismus fordert uns alle heraus, die Art zu überdenken, wie wir Nachrichten präsentieren, und dazu, unsere eigenen Vorurteile zu hinterfragen“, sagt Ainger, die die angeblichen Objektivitätskriterien des Mainstream mit Skepsis betrachtet. Spätestens dann, wenn man selbst an einem Ereignis teilgenommen habe und danach die Berichte im Fernsehen oder den Printmedien darüber verfolge, müsse man sich wohl fragen, „was denn objektive Nachrichten sind“. Könne wirklich irgendein Journalist von sich behaupten, keine Vorurteile zu haben oder keine bestimmte Weltsicht zu vertreten?
Selbst wenn der Mainstream vorgibt, im Interesse der Ausgewogenheit stets beide oder alle Seiten zu Wort kommen zu lassen, melden MedienkritikerInnen wie der am St. Alfred’s College in Winchester lehrende Greg Naughton schwere Bedenken an. Zum einen „halte ich es gar nicht für möglich, im wissenschaftlichen Sinn objektiv zu sein, wenn es um Nachrichten und Kultur geht.“ Zum anderen stelle sich die – auch beim letzten Fernsehfestival in Edinburgh im Sommer 2001 – heftig diskutierte Frage, inwieweit „die Nachrichten nicht schon jetzt Propaganda wären im Interesse einer immer geringeren Zahl von Medienunternehmen, die zu einem Konsens darüber gekommen sind, was berichtet werden darf und was nicht“.
„Wir sind wenigstens ehrlich und legen unsere Weltanschauung offen“, meint O’Connor, der mit voller Unterstützung von Naughton rechnen kann. Denn mit offen deklarierter Subjektivität könnten LeserInnen und FernsehzuseherInnen wesentlich leichter umgehen. Viel schwerer zu entschlüsseln seien dagegen unter dem Deckmantel der Objektivität versteckte Interessen. Diese erkennen zu lernen ist eine wesentliche Aufgabe in jenen Kursen, die er selbst leitet.

Naughton ist nicht der einzige Universitätslektor, der die alternativen Medien so ernst nimmt, dass er sie in seine Lehrveranstaltungen integriert und AktivistInnen zu Debatten einlädt. Bisher einmalig war hingegen der Entschluss von „Channel 4“, AktivistInnenvideos im Fernsehen und noch dazu zur Hauptsendezeit auszustrahlen. Jess Search, Vizeleiterin der Abteilung Unabhängiger Film bei Channel 4, erklärt, sie habe auf die halbstündige Sendung mit dem Titel „Alt-World“ fast ausschließlich positive Reaktionen bekommen, und zeigt sich äußerst zufrieden mit dem Experiment. Auch sie betont, wie dringend erforderlich es wäre, eine Vielzahl von Stimmen zu präsentieren und zwar nicht stets durch den Filter professioneller Journalisten, die trotz der ethnischen Vielfalt in Großbritannien mehrheitlich einer weißen Mittel- und Oberschicht entstammen und deren bestimmte Weltsicht vertreten.
Für Naughton ist die Art der Medienberichterstattung eine grundlegende Frage der Demokratie. In einer derart pluralistischen Welt mit so vielen Gemeinschaften, Interessengruppen, Meinungen und Anliegen macht er einen gravierenden Mangel an Foren aus, wo diese Stimmen repräsentiert werden. Der Mainstream versage absolut darin, die Vielfalt zu repräsentieren, soferne er überhaupt dieses Ziel verfolge. „Es kann gar nicht zu viele alternative Medien geben“, meint Ainger, die hier absolut keine Sorge vor mehr Konkurrenz für ihren New Internationalist hat. „Je mehr Stimmen, desto besser“, sagt sie und stellt sich voll hinter einen Journalismus, „der auch an etwas glaubt“.
So interessant das Experiment in Channel 4 für O’Connor war, es hat ihm doch auch gezeigt, wie eng der Spielraum wird, wenn es um Kritik an der Polizei geht, an multinationalen Unternehmen, die ja zugleich potente Werbeeinschalter für die Medien sind, an anderen Institutionen des Establishments oder überhaupt darum, die vorherrschende Weltsicht zu hinterfragen. Zwei Welten trafen da aufeinander. Jess Search, die natürlich auf die Einhaltung der international anerkannten Fernsehbestimmungen pochen musste, wurde plötzlich bewusst, wie sehr sie als Vertreterin eines doch offeneren Mediums von den AktivistInnen dennoch als volles Mitglied des Establishments gesehen wurde. Die AktivistInnen verfolgten mit Skepsis die Kürzungen bei ihren Videos. Ob es zu weiteren Kooperationen kommen wird und wie diese aussehen könnten, ist noch unsicher. Für O’Connor aber geht es vorrangig um den Ausbau der alternativen News und ihrer Netzwerke. „Das muss unser Hauptziel sein.“


Thomas Harding, The Video Acitivist Handbook, 2nd edition
Pluto Press, London 2001
www.plutobooks.com

www.undercurrents.org

Brigitte Voykowitsch ist freie Journalistin und lebt in London.

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